Ein ungeschriebenes Elterngesetz für die Erziehung von Kindern besagt: Wenn die Kleinsten friedlich allein spielen, solltest du Blickkontakt vermeiden. Und das aus einem einfachen Grund: Wenn sich Eltern ständig ungefragt in die Beschäftigung ihrer Kinder einmischen, bremsen sie – ungewollt – das Potenzial ihres Nachwuchses aus.
„Fördern, fördern, fördern“ heißt das Gebot der Stunde, wenn es um die Erziehung der Kleinsten geht. Eltern wollen ihren Kindern möglichst früh möglichst viel beibringen. Von PEKiP-Kursen über besonderes Spielzeug bis zum Englischunterricht – das Erziehungsziel ist, den Horizont der Kinder zu erweitern, ihnen zu zeigen, was möglich ist und worin ihre Stärken liegen.
Ein Experiment, welches gleich von mehreren Universitäten durchgeführt wurde, demonstriert jedoch, dass dieser an sich lobenswerte Anspruch tückisch ist. Vor allem, wenn es um die Erziehung von Kleinkindern geht.
Die Wissenschaftler beobachteten Kinder, die sich allein im Raum mit einem Spielzeug beschäftigen sollten. Das Spielzeug bestand aus mehreren Teilen und hatte mehrere Funktionen: Ein Element konnte hupen, ein weiteres konnte aufleuchten, ein drittes machte Musik und ein viertes Element besaß einen versteckten Spiegel.
Nun hatten die Wissenschaftler die Kinder vorab heimlich in zwei Gruppen eingeteilt. Bei den Kindern der ersten Gruppe zeigte zu Anfang ein Erwachsener, wie an dem Spielzeug die Hupe funktioniert. Die Kinder der zweiten Gruppe erhielten keine Instruktion, sondern wurden sich selbst überlassen.
Als man das Verhalten der Kinder im Anschluss miteinander verglich, fiel etwas Frappierendes auf: Die Kinder der ersten Gruppe spielten ausschließlich mit der Hupe, die anderen Funktionen blieben unentdeckt. Die Kinder der zweiten Gruppe, denen man nichts gezeigt hatte, fanden hingegen sämtliche Funktionen des Spielzeugs selbst heraus und nutzten sie auch.
Das Ergebnis des Experiments ist ein Warnsignal
Für Hirnforscher Gerald Hüther ist das Ergebnis des Experiments ein Warnsignal. Zudem bestätigt es, was die Forschung schon seit Längerem beobachtet. Wenn Eltern zu sehr in das freie Spiel von Kindern eingreifen, zerstört das die natürliche Neugier. Der weite und offene Blick auf die Welt stumpft ab:
„Kinder haben eine angeborene Entdeckerfreude – bis irgendwann jemand kommt und ihnen sagt, was sie jetzt machen sollen“, erklärt Hüther.
Das Spiel hat das Potenzial, verfestigte Strukturen zu durchbrechen und Innovation hervorzubringen. Wer das freie Spiel stört, behindert somit gerade eine jener Tugenden, die in der heutigen Zeit immer wichtiger werden: Kreativität.
Der Hirnforscher geht sogar noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass viele Eltern die Sichtweise ihrer Kinder unwillentlich einschränkten, sie störten sogar deren Entwicklung:
„Aus der Gehirnforschung weiß man, dass völlig absichtsloses Spielen für die besten Vernetzungen im Gehirn sorgt.“
Nichts stärkt die Ausprägung von Intelligenz und Persönlichkeit mehr, als wenn sich das Kind die Welt völlig ziel- und orientierungslos aneignet.
Fördern bedeutet, dem Kind in der Erziehung die Möglichkeit zu bieten, seinen Geist eigenständig zu entwickeln
Fördern heißt in diesem Sinne also gerade nicht, das Kind anzuweisen und zu formen. Fördern bedeutet vielmehr, dem Kind die Möglichkeit zu bieten, seinen Geist eigenständig zu entwickeln. Auf diese Weise wird aus dem „Erziehungsobjekt“ ein Subjekt: ein Kind mit dem inneren Drang, sich Fähigkeiten anzueignen und Neues zu lernen.
Solange Eltern das Kind in diesem inneren Drang unterstützend begleiteten, sei alles gut, meint Gerald Hüther.
„Halte die Spiele der Kinder heilig und störe sie nicht“, mahnte schon der Schriftsteller Frank Wedekind. Besonders im Kleinkindalter tun Eltern gut daran, sich mit ihrem scheinbar überlegenen Wissen zurückzunehmen und selbst zu Beobachtern des kindlichen Spiels zu werden. Vielleicht können ja Erwachsene von dieser Art der Welterkenntnis selbst noch etwas lernen. Schöner und bunter ist das Leben allemal, wenn man sich eine ordentliche Portion Spielfreude bewahrt.
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Quelle: focus
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