Beim Thema Tierversuche kochen die Gefühle hoch. Für die einen sind sie der Abgrund der bestialischen Grausamkeit, die Menschen fühlenden Lebewesen antun. Für die anderen sind die Tierschützer wiederum nichts weiter als verblendete Ideologen, die die Entwicklung wirksamer Krebs- und Alzheimermedikamente behindern.
Neutrale Informationen zu dem Thema lassen sich nur schwer finden. Kein Wunder also, dass zahlreiche Mythen und Fehleinschätzungen verbreitet sind. Im Folgenden werden 8 häufige Irrtümer über Tierversuche aufgeklärt, damit du dir deine eigene Meinung bilden kannst.
1. Im Schulunterricht werden Frösche getötet
Man kennt die Szene aus Filmen: Die Schüler haben vor sich einen Frosch in einer Schachtel. Als der Schüler ihn für das Experiment herausholen will, hüpft der Frosch davon. Der Schüler ist erleichtert, das Tier nicht töten zu müssen. In der EU ist es allerdings unzulässig, ein Tier für Unterrichtszwecke zu töten. Das wäre dann nämlich ein Tierversuch mit dem „schwersten denkbaren Schaden“, wie es im Juristendeutsch heißt – und Tierversuche sind an der Schule verboten. Als ein Lehrer in Österreich ein Kaninchen vor den Augen seiner schockierten Schüler tötete und zerlegte, war das also gesetzeswidrig. Erlaubt ist hingegen die Sektion bereits toter Tiere. Ob das für die Anschaulichkeit notwendig ist, entscheidet der Lehrer.
2. In Kosmetik stecken keine Tierversuche mehr
Seit 1998 sind in Deutschland Tierversuche für die Entwicklung von Kosmetik, Shampoos und Bodylotions verboten. Seit 2013 gilt sogar in der gesamten EU ein Verbot kosmetischer Inhaltsstoffe, die an Tieren getestet wurden. Sind „tierversuchsfreie“ Badezusätze und Cremes also nur Augenwischerei? Nein! Denn Chemikalien wie Duft- und Farbstoffe dürfen laut europäischer Chemikalienverordnung immer noch an Tieren getestet werden. Darüber hinaus führen die meisten Kosmetikhersteller allein schon deshalb Tierversuche durch, da dies in manchen Ländern wie China sogar vorgeschrieben ist. Das Engagement von Firmen wie Lush gegen Tierversuche hat somit durchaus seinen Sinn.
3. Tierversuche sind ersetzbar
Seit vielen Jahren gibt es sinnvolle Alternativen zu Tierversuchen. Besonders Experimente zur Giftigkeit eines Stoffes sind inzwischen gut ohne Tierbeteiligung möglich. Bei Studien zu komplexen Vorgängen – etwa im Immunsystem, Herz-Kreislauf-System oder Nervensystem – sehen Mediziner diese Möglichkeit jedoch noch nicht. Für die Erforschung von Medikamenten sind Tierversuche sogar gesetzlich vorgeschrieben – dies macht 27 % aller Tierversuche aus. Mit Multiple-Sklerose-Tabletten kann man leider weder Computer noch Reagenzgläser füttern.
4. 99,7 % der Ergebnisse sind nicht auf den Menschen übertragbar
Kritiker sehen die Aussagekraft medizinischer Tierversuche skeptisch. Wo bereits Mäuse und Ratten unterschiedlich reagieren, wie sollen da Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sein? Meist wird der Contergan-Skandal als Beispiel genannt, wo mit Versuchstieren die verheerenden Folgen nicht hatten vorhergesehen werden können. Angeblich sollen sogar 99,7 % der Tierversuchsergebnisse für den Menschen unbrauchbar sein. Das Problem an der Studie: Sie wurde für 51 Tierexperimente an 3 bayerischen Universitäten erhoben. An Universitäten findet jedoch vor allem zweckfreie Grundlagenforschung statt. Wäre der medizinische Nutzen von Tierversuchen tatsächlich so niedrig, würde die Investition in alternative Methoden mit Sicherheit stärker vorangetrieben.
5. Tierversuche dienen nur dem Wohl der Menschen
Die zweckfreie Grundlagenforschung macht 50 % der Tierversuche aus. Grundlagenforschung ist für den wissenschaftlichen Fortschritt unablässig. Allerdings scheint der Sinn einiger Tests in der Tat äußerst fragwürdig. So füllten Ernährungswissenschaftler der Uni Jena – mit Unterstützung der Brauerei Kulmbacher – Mäuse zum einen mit Ethanol ab, zum anderen mit Bier. Das wenig überraschende Ergebnis: Die Tiere vertrugen Bier tatsächlich besser als den reinen Alkohol. An der Charité in Berlin wurden 48 Schafen die Kreuzbänder entfernt, obwohl die Forscher im Vorhinein wussten, dass Schafe keine Zweibeiner sind, die Ergebnisse für den Menschen also irrelevant waren. Die Beispiele reiner Neugierforschung ließen sich fortführen.
Was darüber hinaus viele Tierbesitzer nicht wissen: Auch Tiernahrung wird an Tieren getestet. Dabei werden Tiere zum Teil gezielt krank gemacht, überfüttert oder mangelernährt. „Aussagen wie ‚Dieses Produkt wurde nicht an Tieren getestet‘ bedeuten häufig nur, dass zwar nicht das Endprodukt, wohl aber die Inhaltsstoffe an Tieren getestet wurden“, informiert die Tierschutzorganisation PETA.
6. Tierversuche werden dank alternativer Verfahren weniger
Das Gegenteil ist der Fall. Im Jahr 2013 wurden 36 % mehr Versuchstiere verwendet als noch zehn Jahre zuvor. Und die Zahl wächst kontinuierlich weiter. Rund 3 Millionen Versuchstiere kommen derzeit jährlich ums Leben – allein in Deutschland! Knapp die Hälfte davon sind Mäuse. Affen werden nur für 0,25 % der Experimente eingesetzt, ihr Anteil wächst allerdings stark. Woran liegt das?
Der allgemeine Anstieg der Versuchstiere hat vor allem mit den Fortschritten in der Genforschung zu tun: Um ein gentechnisch verändertes Tier mit der gewünschten Ausprägung zu erhalten, müssen im Schnitt 54 Tiere sterben. Dafür, dass immer mehr Affen für Versuche herhalten müssen, ist wiederum der Bereich der Neuroprothetik verantwortlich: Hierbei werden Chips ins Gehirn eingesetzt, um Prothesen via „Gedankenübertragung“ zu steuern. Bislang gibt es für keinen der beiden wichtigen Forschungsbereiche eine Alternative.
7. Versuchstiere werden artgerecht gehalten
Das Tierschutzgesetz fordert, Versuchstiere verhaltensgerecht unterzubringen. Die Bilder von in engen Käfigen vegetierenden Hunden, Katzen und Affen stimmen für Deutschland nicht. Solche Käfige werden lediglich für den Transport eingesetzt. Seit mehr als 10 Jahren gilt sogar das Prinzip, die Tiere durch Abwechslung und Spiele in ihrer natürlichen Entwicklung zusätzlich anzuregen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass gerade die Industrie ihre Tierversuche längst ins Ausland verlagert hat. Für Tierschützer sind zudem selbst die strengen Vorgaben in Deutschland noch weit von „artgerecht“ entfernt. Was artgerecht ist und was nicht, ist somit nicht zuletzt Definitionssache. Wer würde sein Kind zum Beispiel in den rechtlich vorgesehenen 6 Quadratmetern großziehen wollen?
8. In Europa wäre der Abgastest an Affen nicht möglich gewesen
Als Journalisten aufdeckten, dass die „Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor“ (EUGT) sinnlose Abgastests an Affen durchführen ließ, war der Aufschrei groß. Die deutschen Forschungseinrichtungen wiegelten daraufhin ab: So etwas wäre wegen der strengen Hürden in Europa nicht möglich gewesen. Hinter der EUGT steckten jedoch die Konzerne Daimler, VW, BMW und Bosch – in der Auslagerung von Tierversuchen durch die Industrie offenbart sich somit eine fatale Lücke im Tierschutzgesetz.
Außerdem zeigt ein weiteres Beispiel, dass es auch in deutschen Versuchslaboren zu Missbräuchen kommt. Eine von Tierschützern initiierte Undercover-Recherche brachte im Jahr 2014 qualvolle Bilder aus dem Max-Planck-Institut in Tübingen ans Licht: Affen, die sich andauernd übergaben, Tiere, die geschlagen und gezerrt wurden, andere hatten entzündete Operationswunden, deren Nähte sie sich vor Schmerz selbst aufrissen. Die Staatsanwaltschaft erstellte Anzeige, in Tübingen darf nicht mehr an Affen geforscht werden. Der Fall zeigt aber: Ein funktionierendes Kontrollsystem zur Einhaltung der Tierschutzstandards gibt es noch nicht.
Jahrzehntelang war die Kontroverse um Tierversuche von Horrorbildern und Schlagworten geprägt. Heutzutage gibt es in Deutschland vor allem zwei Initiativen, die sich um wissenschaftliche Aufklärung bemühen – von Neutralität sind jedoch beide immer noch weit entfernt. Bei der forschungsnahen Initiative „Tierversuche verstehen“ werden durchaus berechtigte Kritikpunkte meist durch den Verweis auf gesetzliche Regelungen abgewiegelt. Bei der Initiative „Ärzte gegen Tierversuche“ finden sich hingegen teilweise Argumente von Leuten, die die Methoden der Schulmedizin grundsätzlich infrage stellen. Es wäre wünschenswert, wenn zum Wohl von Tier und Mensch ein wirklicher Dialog beider Seiten zustande käme. Immerhin ist gerade bei ethischen Fragen ein offener Meinungsaustausch in der Gesellschaft notwendig. Wie stehst du dazu?
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